Das Europaparlament soll im September entscheiden ob und welche antibiotischen Wirkstoffe „dem Menschen vorbehalten“, also für Tiere verboten werden. mensch:tierarzt fragt bei zwei Fachtierärzten nach: Was passiert mit Pute und Huhn, mit Hund und Hamster, wenn eine Behandlung mit diesen Antibiotika tatsächlich nicht mehr möglich wäre?
Dass Tierärzte sich in ihren Praxen direkt mit einer Unterschriftenkampgane an Tierbesitzer wenden und diese bitten, gegen eine mögliche EU-Entscheidung zu protestieren, ist ein Novum. Im Format „Rolf ruft“ fragt Rolf Nathaus gleich zwei Tierärzte – den Geflügel-und Schweinfachtierarzt Dr. Erwin Sieverding und dem Heimtierspezialisten Dr. Thomas Göbel – welche Konsequenzen sie bei einem drohende Antibiotikaverbot persönlich befürchten.
Mehr zum politischen und europarechtlichen Hintergrund der Verbotsdebatte sowie der Tierarztkampagne finden Sie hier in den Shownotes zum Podcast.
Darüber werden Sie was hören – Zeitstempel
„Bestandsbehandlungen sind bei bestimmten Erkrankungen zwingend nötig“
Dr. Erwin Sieverding (Lohne)
„Wir stünden bei der Hälfte der Patienten mit völlig leeren Händen da“
Privatdozent Dr. Thomas Göbel (Berlin)
Das Fazit: Sorge und Unverständnis
Hintergründe und weiterführende Links:
Neues EU-Tierarzneimittelrechtrecht ab Januar 2022
Im Januar 2022 tritt nach zwei Jahren Übergangszeit das 2019 verabschiedete, neue Europäische Tierarzneimittelrecht (EU-Verordnung 2019/6 – PDF-Download) in Kraft.
Es regelt in Artikel 107, wann ein antibiotischer Wirkstoff bei Tieren (nicht) angewendet werden darf und in Artikel 37(3-6) auch, wann ein antibiotischer Wirkstoff nicht mehr für Tiere zugelassen und dem Menschen vorbehalten sein soll.
Dazu war die EU-Kommission aufgefordert, in einem „Delegierten Rechtsakt“ (PDF Download) die entsprechenden Kriterien auf wissenschaftlicher Basis genauer zu definieren.
Dieser Rechtsakt und die Kriterien zur Kategorisierung von Antibiotika (PDF-Download) liegen dem EU-Parlament vor. Sie wurden von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in Abstimmung mit der Europäischen Lebensmittelsicherheitbehörde (EFSA) und dem Europäischen Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sowie mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) erarbeitet. Angestrebt ist ein Gleichgewicht der Regulierung zum Schutz der Gesundheit von Menschen und Tieren. Eines der wissenschaftlichen Kriterien lautet deshalb auch:
Ein Antibiotikum soll für Tiere NICHT VERBOTEN werden, wenn es einen „wesentlichen Bedarf für diesen Wirkstoff im Tiergesundheitsbereich“ gibt und er zur Behandlung schwerer lebensbedrohlicher Infektionen bei Tieren eingesetzt wird.
EMA-Kriterien für die Bestimmung antimikrobieller
Wirkstoffe, die … dem Menschen vorbehalten
bleiben müssen
Warum muss das EU-Parlament jetzt über ein Antibiotikaverbot entscheiden?
Während des gesamten Abstimmungsprozesses gab es keinen Einspruch von Seiten des Europaparlaments gegen diese Kategorisierung. Erst im Juli 2021 hat der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des EU-Parlaments (ENVI) auf Initiative des Grünen Abgeordneten Martin Häusling die Vorlage als „nicht ausreichend“ zurückgewiesen und einen Gegenantrag (PDF-Download) eingebracht.
Dieser fordert „… to reserve highest priority critically important antimicrobials (HPCIA) for human use only.“
Das bedeutet im Umkehrschluss: Ein Verbot des Einsatzes bei Tieren. Ausnahmen soll es nur für „Einzeltierbehandlungen“ geben. Häusling zielt mit dem Verbot auf Gruppenbehandlungen in der Nutztierhaltung, etwa bei Geflügel.
Verbot träffe alle Tiere – Therapienotstand droht
Die EU-Rechtssystematik sieht aber eine solche Zweiteilung in Gruppen- und Einzeltierbehandlung nicht vor.
Folgt das Europaparlament dem Antrag des ENVI-Ausschuss, dann wäre – so die Meinung der Tierarztverbände und Europarechtlern – ein komplettes Anwendungsverbot der von der WHO als HPCIA eingestuften Wirkstoffe, also von Fluorchinolonen, Cephalosporinen der 3./4./5. Generation, Polymyxinen (Colistin) und Makroliden in der Tiermedizin kaum abzuwenden.
Der Grund: Wenn laut EU-VO 2019/6 ein Wirkstoff für die Humanmedizin reserviert wird, soll dies über ein Ruhen bzw. Einziehen der Arzneimittelzulassung(en) erfolgen. Zulassungen für Wirkstoffe unterscheiden aber NICHT zwischen Einzeltier- oder Gruppenbehandlungen.
Von dem Anwendungsverbot wären also alle Tierarten betroffen mit dramatischen Auswirkungen für die Therapie von Tieren.
Diese Sichtweise teilen:
- Der Bundesverband der praktizierenden Tierärzte (bpt), der eine Protestaktion initiiert hat (alle Informationen hier)
- Der Deutsche Tierschutzbund, der ebenfalls die bpt-Kampagne unterstützt (mehr hier)
- Die Bundestierärztekammer (BTK) mit einer Stellungnahme (PDF-Download hier) sowie einem Musterschreiben direkt an Tierhalter (PDF-Download hier).
- Die Landestierärztekammern (z.B. Nordrhein/hier und Baden-Württemberg/hier )
- Der Europäische Tierärzteverband (FVE – PDF-Download Statement mit vielen Hintergrundinformationen hier / Webseite)
- Der Welttierärzteverband (WVA – PDF-Download Statement hier / Webseite)
- Der Bundesverband für Tiergesundheit (BfT – Statement hier)
- Auch der Belgische Praktikerverband hat eine Petition gestartet (hier).
Protestkampagne der Tierärzte
Um das Verbot abzuwenden, starteten die deutschen Tierärzte eine Protestkampagne (PDF-Downlod Hintergründe hier) und sammeln in Ihren Praxen Unterschriften gegen den ENVI-Antrag.
Auch eine Online-Unterschriftenkampagne läuft (Zeichnung hier). Bis zur Veröffentlichung dieses Podcast am 22.8.2021 haben 255.740 Menschen die Kampagne unterstützt.
Was soll die Tierarztkampagne politisch erreichen?
Der „Verbotsvorschlag“ fand im ENVI-Ausschuß nur eine Mehrheit, weil sich die Abgeordneten der EVP-Fraktion, zu der auch CDU/CSU gehören, weitestgehend enthalten hatte (38 Ja-Stimmen – 18 Nein – 22 Enthaltungen).
Würde die EVP-Fraktion im EU-Parlament gegen den Antrag des ENVI-Aussschuss stimmen, hätte er keine Mehrheit. Die Tierärztekampagnne will deutsche Parteien und deren Europaabgeordnete für den Systemfehler des Antrages sensibilisieren.
Inzwischen haben sich in Deutschland CDU/CSU, die FDP und auch die Linke FÜR die Kriterien des EMA-Vorschlages – und damit gegen den ENVI-Antrag – ausgesprochen.
(Den Wortlaut der Parteipositionen finden sie hier)
Streitfrage: Bliebe Einzeltierbehandlung möglich?
Der für das EU-Parlament federführende Berichterstatter, der Grüne Abgeordnete Martin Häusling, betont immer wieder, dass sein Verbotsantrag keine Auswirkungen auf die Behandlungen von Einzeltieren habe (PDF-Download). Die EU-Kommission könne und solle Ausnahmen für Einzeltierbehandlungen festlegen.
Das ist theoretisch möglich, hätte dann aber in den mehrjährigen Abstimmungen über die Formulierung der EU-VO 2019/6 eingebracht werden müssen – und wurde dort nicht aufgenommen.
In den knapp vier Monaten zwischen der anstehenden Parlamentsentscheidung im September und dem Inkrafttreten im Januar 2022 gilt es aber als nahezu ausgeschlossen, dass alle 27-EU-Mitgliedstaaten einer erneuten Öffnung und Umformulierung der Verordnung zustimmen.
Häusling argumentiert, dass sei möglich und verweist auf die kurzfristigen COVID-19-Rechtssetzungen.
Würde der ENVI-Antrag im September angenommen und umgesetzt entstünde womöglich sogar zunächst die paradoxe Situation, dass Nutztiergruppen zunächst für Jahre weiterbehandelt werden dürfen – weil die EU-VO 2019/6 eine Übergangsfrist bis zum endgültigen Erlöschen einer Zulassung vorsieht.
Kleine Heimtiere, Pferde und Zootiere wären aber sofort vom Verbot betroffen, denn dort müssen die relevanten Wirkstoffe oft mangels Tierartzulassung umgwidmet werden. Ein Umwidmungsverbot greift aber sofort, wenn der entsprechende Wirkstoff seine Zulassung verlöre.
Kampfbegriffe „Reserveantibiotika“ und Massentierhaltung
Medial argumentieren die Befürworter eines Antibiotiakverbotes in der „Massentierhaltung“ immer wieder mit der pauschalen Formulierung der „Reserveantibiotika, die als einziges Medikament noch helfen können, wenn alle anderen versagen“ und deshalb den Menschen vorbehalten werden müssten.
Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet aber weitaus differenzierter zwischen “Reserve Antibiotics” und „Highest Priority Critically Important Antimicrobials“ (HPCIA), zwischen Restriktion und Verbot.
Mit den den Polymyxinen (Colistin) stuft die WHO ein in der Tiermedizin eingesetztes Antibiotikum als „Reserve Antibiotic“ oder „last resort option“ ein (WHO-Definition als PDF-Download / Antibiotika siehe S. 8-16). Genauer erklärt dieser Artikel auf der mensch:tierarzt Partnerseite wir-sind-tierarzt.de die Kategorisierung (Artikel ist aus 2017 / die Liste wurde 2019 aktualisiert / die Argumentationskette hat weiter Bestand).
Die WHO-Kategorie der„Highest Priority Critically Important Antimicrobials“ (HPCIA) ist keine reine „Last-Resort-“ oder „Reserve-Kategorie“. Die besonders kritische Wichtigkeit dieser Wirkstoffe kann laut WHO-Definition (PDF-Download) auch und gerade damit begründet sein, dass sie sogar sehr häufig in der Humanmedizin eingesetzt werden. Das gilt etwa für Fluorchinolone und Cephalosporine (3./4. Generation) und Makrolide .
So machen Fluorchinolone und Cephalosporine in der Humandmedizin in Deutschland etwa 1/4 der Antibiotikaverordnungen aus.
Mit der HPCIA-Kategorisierung will die WHO die grundsätzliche Bedeutung einer Wirkstoffklasse für den Menschen anhand von nachvollziehbaren Kriterien belegen.
Gleichzeitig verweist die WHO darauf, dass ihre Empfehlungen als Hilfe zur Ausarbeitung von Strategien zur Resistenzminimierung anzusehen sind und dabei immer auch in Beziehung zu den Antibiotika-Empfehlungen der Weltorgansation für Tiergesundheit (OIE) gesetzt werden sollen. Auf dieser Grundlage wurden die aktuellen EMA-Empfehlungen zur Kategorisierung von antimikrobiellen Wirkstoffen erarbeitet.
The use of the WHO CIA List, in conjunction with the OIE list of antimicrobials of veterinary importance (1) and the WHO Model Lists of Essential Medicines (2), will allow for prioritization of risk management strategies in the human sector, the food animal sector, in agriculture (crops) and horticulture, through a coordinated multisectoral One Health approach.
WHO Dokument „Critically Important Antimicrobials for Human Medicine“ (6th revision 2018 / Kapitel 4: „Use of the document)
Bildhinweis: Kampagnenmotiv des bpt ( © bpt) / Portraits Sieverding/Göbel (© Privat) / andere Motive wie gekennzeichnet
Ich habe selber einen Hund und zwei Katzen,das ist unverantwortlich,was hier gemacht wird.